Andacht zum Reformationstag 2022

Hebräer 13, 11:  „Denn es ist gut, dass das Herz durch Gnade gefestigt wird.“ —-

Der Kirchenvater Augustinus, Bischof von Hippo und begnadeter Prediger, war 72 Jahr alt, als er den Priester Heraklius zu seinem Nachfolger bestimmte. Es wird berichtet, Heraklius sei während einer Predigt in seinem Beisein von einem Gefühl der Unzulänglichkeit überwältigt worden. Er habe deswegen geäußert: „Die Grille zirpt, der Schwan schweigt.“

Aber der „Schwan“ hat nicht geschwiegen. Immer wieder hat er von sich hören lassen – in neuer Gestalt.

Am 6. Juli 1415 wurde Jan Hus mit seinen Büchern auf dem Scheiterhaufen verbrannt. Kurz vor seinem Tod soll er geschrieben haben: „Heute verbrennt ihr eine Gans („Hus“ bedeutet auf Tschechisch „Gans“); aber in 100 Jahren werdet ihr einen Schwan singen hören, den ihr nicht verbrennen könnt.“

Nach gut 100 Jahren (1531) bezog Martin Luther diese Worte auf sich. Das Lied des „Schwans“ wird das Lied vom Jubel über die Gnade sein, das nie verstummen konnte. Und war es nicht gerade der Reformator, der neu gelehrt hat, allein aus Gnade gerechtfertigt zu sein (Röm 3,24)? Diese Botschaft ist nicht totzukriegen, genauso wie die Gnade.

Von Paulus über Augustin, Luther und viele andere „Schwäne“ ist dieser Jubel bis zu uns gekommen. Diese wunderbaren Stimmen singen bis zum heutigen Tag. Dabei besingen sie nicht sich selbst, sondern den Gnädigen. Sie rühmen sich nicht ihres eigenen Tuns, sondern das des Einen. Allein von ihm leben wir; nur durch ihn wachsen und reifen wir. Er allein macht unsere Identität aus. Das Wunder der Gnade geschieht trotz unserer Fehler und Grenzen. Ja, das Lied der Schwäne ist wirklich ihr Jubellied! Die Apostel haben es gesungen:

Durch Gottes Gnade bin ich, was ich bin (1 Kor 15,10); lass dir an meiner Gnade genügen (2. Kor 12,9); setzt eure Hoffnung ganz auf die Gnade (1. Ptr 1,13); es ist gut, dass das Herz durch Gnade gefestigt wird (Hbr 13,9 Menge).

Wer so einen Lobgesang anstimmt, ob Schwan oder Grille, kann laut oder leise singen, die Tonart oder die Musikrichtung wechseln; nie aber wird Eigenlob daraus. Die Schwäne schweigen nicht. Sollten wir nur zirpende Grillen sein, dann singen wir dennoch das gleiche Lied: „Geh unter der Gnade … ob du wachst oder ruhst“, denn „allein deine Gnade genügt.“ (ghs 640,1 und 371,1)

Text: Hartwig Lüpke

© Advent-Verlag Lüneburg – mit freundlicher Genehmigung